Es gibt hier die verschiedensten Obdachlosen. Es gibt beispielsweise den Typ Dichter, der sich aus Verachtung des Äußerlichen ganz unachtsam kleidet (der Gürtel sitzt nicht richtig, das Hemd hängt heraus) und der gerade so irgendwie lebt, die ganze Zeit am Parlieren ist und der Stadt seine exquisiten Bonmots überantwortet.
Andere starren mich argwöhnisch an und ich bemühe mich, schnell in die andere Richtung zu schauen und dann zu gehen, weil ich weiß, dass sie mich sonst angehen. Ich weiß es natürlich nicht, aber ich denke es mir und vermute, dass ich mir immerhin eine Standpauke anhören muss: Du bist du! Und ich bin ich! Schäme dich!
Manche der Obdachlosen sind überhaupt nicht verrückt (Duh!), sondern eher Wildcamper. Sie campen hier überall, neben der Église Sainte-Élisabeth, auf dem Place de la République und auch mal mitten auf einer Verkehrsinsel. Manche schlängeln sich um die Polder herum, die verhindern sollen, dass sie sich dorthin legen, wie Fakire. Und einer hat keine Matratze, sondern ein Futon, ein Samurai der Stadt. Diszipliniert sitzt er auf seiner Matte und erträgt die Prüfungen, die ihm sein Sensei, die Stadt Paris, aufgetragen hat, um den nächsten Dan zu meistern, welcher das Überleben heißt.
Ein anderer wiederum geht einfach nur wie ein ganz normaler Bürger seines Weges, natürlich mit gequälten Gesicht und missmutig, aber nicht sehr verschieden von den anderen, und man muss sich schon bemühen, seine Obdachlosigkeit zu benennen.
Ein weißer Franzose, etwa 45, Bomberjacke, leicht punkig, spricht auf seinen algerischen Freund ein, der die Unbeeindrucktheit selbst ist. Der Halbpunker ist unrasiert und seine Gesten sind ausschweifend. Besonders fällt sein Finger auf. Die Art und Weise, wie der durch die Luft schießt, wie er ihn sich immer wieder an die Schläfe hält, signalisiert, wie viele essentielle Sachverhalte er durchblickt. So viel Wahrheit, so viel Erkenntnis in einer einzigen Person. Und je unbeeindruckter sein Freund sich gebärdet, desto akrobatischer fuchtelt er in der Luft herum, solange, bis der schließlich doch ein Nicken andeutet und beide ihres Weges gehen.
Überhaupt gibt es viele, die man für Professoren der Literatur hält und die einen intensiv anblicken, als wäre ihnen nichts lieber, als dir ihren neuen Essay über Racine vorzulegen. Aber wenn man sie dann danach fragt, dann haben sie nichts zu sagen, dann wiederholen sie sich und beginnen ein virtuos-verzweifelte Spiel um ihr Nichtwissen zu verbergen.
Es gibt auch einen Zwischenzustand zwischen altem einsamem Mann und Chlochard. Viele sind einfach nur etwas verwahrlost und bewegen sich immer weiter auf die Obdachlosigkeit zu. Sie suchen die Blicke, sie suchen die Möglichkeit, Streit zu beginnen. Aber sie bekommen sie nicht, was sie immer unfreundlicher und unglücklicher macht. Sie waren rebellisch als Jugendliche. Man hat sie gemocht; nicht freundschaftlich, aber man mochte ihren Unterhaltungswert. Das Rebellische hatte was in ihrer Jugend. Heute ist das verblasst, man schätzt die Konformität wieder mehr. Dadurch werden diese Männer plötzlich zu Aussätzigen, was sie nie gewohnt waren, denn das Rebellentum war früher cool nun ist es nur noch peinlich.
Einer trägt moderne Turnschuhe, aber auch eine bayerische Lodenjacke. Er hat weißes Haar mit einem leichten Gelbstich, einen langen Bart und einen Zopf hinten. Er steht an einer Ecke und raucht, als wisse er nur zu gut um seinen Style.
Der Rowdy mit Armeehosen raucht und spuckt einen grün-gelben Auswurf vor sich auf den Boden. Er transportiert seine Habe in einem Bergsteiger-Rucksack und einer doppelt gefassten Plastiktüte und schaut sich offensiv nach anderen Menschen um. Er sitzt vor dem Café, in dessen Pavillon ich mir ein Croissant bestellt habe und ich stelle mir vor, dass er dort draußen auf mich wartet. Was soll ich tun? Soll ich ihm seine Aggressivität vorwerfen? Sicherlich nicht. Und sicherlich werde ich auch keine Apologie veranstalten, denn wir können jetzt auch nicht die Verantwortung des Einzelnen leugnen. Die Lösung liegt wohl schlicht darin, sich nicht in Moralisierungen zu ergehen. Derweil bin ich beeindruckt von der Menge an Körperflüssigkeiten, die er vor sich ausbreitet. Seine Schuhe sind geeignet, meinen Kopf ganz ohne Not zu zertreten. Ich bitte den Kellner, den Mann für mich zu entfernen, und er tut es ohne zu zögern. Er krempelt seine Ärmel hoch und beginnt einen Faustkampf. Der Kellner ist kampfsporterfahren und der Mann in Armeekleidung unterliegt klar. Er ist zwar stärker, aber unpräzise. Knockout.
Der beleibte Obdachlose im Hoodie mit Mütze und perfektem Platz an einer Ecke von Notre Dame ist reich geworden. Mit seinem Border Collie wartet er auf sein Einkommen. Auf einem roten Pappschild steht eine herzzerreißende Geschichte in drei Sprachen, die sein Einkommen sichert und das Futter des Hundes. Und eine luxuriöse Wohnung in Montmartre. Bei Regen spannt er einen überdimensionierten schwarzen Regenschirm auf, was ihn noch mehr wie ein Buddha der Armut wirken lässt. Mit Passanten unterhält er sich freundlich.
Dann gibt es noch den obdachlosen Sänger, der das perfekte Klagelied anstimmt. Er singt: bitte gib mir doch ein bisschen was, gib mir etwas, damit ich nicht verhungern muss, die Welt ist ungerecht zu mir. Und er hat recht und er ästhetisiert es auch zurecht und sein Timbre schwingt, als zerfledderte die Membrane des Seins. Er ist erfolgreich mit dieser Geschäftsmethode. Selbst die Kirchgänger, welche nicht dafür bekannt sind, außerhalb der Kirche ihr Geld zu lassen, werfen ihm ein wenig hin, weil sie sich sagen: mein schöner Anzugrock passt in dieses Flair, passt in diesen französisch-andalusischen Flamenco. Und wenn Du dich darüber echauffierst, dass ich die Geschäftsmethoden der Bettler beschreibe, dann nur, weil du sie in Gedanken schwach halten möchtest und ihnen keinen Geschäftssinn zugestehst.
Ich bemerke, dass mir ein Taschendieb folgt, und es stört mich nicht weiter. Ich gehe einfach weiter. Und nach einer Zeit bemerke ich dann, dass mir zusätzlich noch ein Bettler folgt, dem ich nichts gegeben habe. Ich dachte, er würde schon irgendwann aufgeben, doch er tat es nicht. Da ich mich relativ langsam bewege, hat er keine Mühe, mir hinterherzukommen. Er sagt nichts, er folgt mir einfach. Und nun hat sich noch ein Verkäufer angeschlossen, ein Mann, der mir eine gefälschte Uhr verkaufen wollte, es aber nicht geschafft hat und immer weiterfeilscht. Das Seltsame ist: diese drei scheinen einander nicht zu bemerken, oder wenn sie sich bemerken, kein Interesse füreinander zu haben. Warum bittet nicht der Bettler den Uhrenverkäufer um eine Spende? Warum stiehlt nicht der Taschendieb dem Bettler die Uhr, die dieser dem Uhrenverkäufer heimlich entwendet hat? Nun, ich denke, das liegt daran, dass sie füreinander völlig uninteressant sind.
Der hipste Obdachlose liegt in seinem Zelt an der Église Saint-Vincent-de-Paul und genießt das milde Wetter. Er hat die AirPods im Ohr und sucht nach dem richtigen Sound für die Misére, die da heißt: Ziehe nach Paris und finde keine Wohnung.
Über Obdachlose zu sprechen in jeder anderen Form als in politischer oder sozialkritischer Kunst, ist verwerflich. Aber sozialkritische Kunst beherrsche ich nicht, weil ich mir nicht anmaßen möchte, die wahren Ursprünge für das Unglück zu kennen, wie das so viele andere ganz ohne Not tun. Mir bleibt also nur zu beschreiben, was ich sehe, und mit der Konsequenz klarzukommen, dass ich damit einen abscheulichen Text produziere. Denn überhaupt keine soziokulturellen und ökonomischen Vorstellungen zu haben oder einfließen zu lassen ist natürlich noch viel ideologischer.
Der gepflegte Bettler bittet mich ganz eloquent auf Französisch um etwas. Ich habe Mühe, ihm verständlich zu machen, dass ich gar kein Französisch spreche. Und er bedeutet mir, das sei gar kein Problem. Mit wenigen Wörtern Englisch erklärt er mir, dass er was zum Drehen braucht. Ich versichere ihm, dass ich leider nicht rauche. Und wieder versichert er mir, dass das gar kein Problem sei, er brauche nur einen Euro. Mit langgezogenem O, ohne das U, das die Amerikaner am Ende aussprechen. Als ich den Kopf schüttle, geht er unverzüglich und zielstrebig seines Weges und geht auch an die Frau vorüber, die gerade eine Zigarette angezündet hat und ihm sicherlich eine gegeben hätte.
An die Ampeln hat man Menschen gestellt, die mit einer roten Kelle darauf achten, dass die Fußgänger die Verkehrsregeln befolgen. Es scheinen Obdachlose oder Arbeitslose zu sein, denen man eine gelbe Warnweste umgeschnallt hat. Und dazu eine Beschäftigung. Es sind Ampeln, an denen ohnehin fast nichts passiert. Daher können sie weder viel falsch noch richtig machen. Auf diese Weise sollen Sie Selbstwirksamkeit erfahren. Ab und zu schnauzen Sie einen Touristen an, was gut ist. Und die Stadt denkt sich sicher, auf diese Weise halten wir sie davon ab, Drogen zu nehmen. Vielleicht ist das eine geniale Idee. Und dennoch kommt es mir so antiliberal vor.
Ein zerzauster Mann mit Lederjacke und lichtem grauem, ungewaschenem und ungeschnittenem Haar, aber keinem Bart, sitzt in einem Hauseingang und isst eine Banane, während er sich mit dem kleinen Finger so tief in der Nase bohrt, wie man es sich nur vorstellen kann. Dann zieht er es heraus und isst es zusammen mit der Banane.
Ich stelle mir ein Paris vor, in dem es nur Bettler und Touristen gibt. Keine Einwohner. Alle Wohnungen sind Airbnb und von Touristen besetzt. Die Airbnbs werden von Touristen oder Bettlern verwaltet. Wer verdient, ist nicht zu ermitteln. Die Touristen gehen durch die Reihen der Bettler und sind schockiert, wie sehr die Sitten hier verfallen sind. Die Bettler schauen auf die Touristen und sind schockiert, dass sie selbst nicht die Touristen sind.
Kommentare von stephan