Einmal, es war Frühling und Herbst zugleich, ging ich arglos durch die Straßen eines deutschen Mittelzentrums. Die Menschen in der Provinz wirken ja manchmal wie nicht ganz gelungene Versionen eines großstädtischen Idealtypus: Sie tragen die aktuelle Mode nicht richtig, sie schustern sich ihr Erleben eklektischer zusammen und halten das für Ideologiefreiheit, selbst ihre Gesichter sind weniger perfekt.
Auf der andern Straßenseite sah ich einen Vater (Athleisure, Sneaker, Leggins) mit Kind und dachte mir: Schön, ein Vater nimmt sich Zeit für sein Kind, zieht es hinter sich her, bringt es durch, schleppt es durch die Untiefen des Alltags. Da fällt mir sein Blindenstock auf. Typisch, denke ich mir, Männer! Aber kaum komme ich zurande mit meiner Empörung, da sehe ich das andere Geschlecht, eine Boho-Frau in einem fließenden Maxikleid, einer geblümten Tunika mit Fransen und Stickereien, die ihren Hund trägt und ihre Katze an der Leine führt.
Ein etwa fünfundfünfzigjähriger, korpulenter Mann steht hinten auf dem fahrbaren Stuhl seiner alten Mutter. Sie fahren gemeinsam durch die Stadt. Sie will nicht mehr alleine raus, er wohnt noch bei ihr und will nicht laufen. Er behauptet in letzter Zeit, dass er bei ihr wohnt, weil er sie ja nicht alleine lassen kann. Aber das stimmt nicht, denn er ist nie ausgezogen. Überhaupt gibt es viele einsame alte Leute. Sie bleiben immerwieder stehen mit ihrem Rollator, ihrem Stock, halten sich an einem Auto fest, manche hangeln sich an den Häuserwänden entlang. Die Bordsteine bereiten ihnen große Sorgen. Es gibt niemanden, der für sie einkauft. Sie müssen es selber tun. Mit ihren Kindern haben sie sich zerstritten oder die Kinder wohnen in Stuttgart. Also verschnaufen und weiter geht’s. Vor einem Friseursalon stehen Astronautinnen. Es sind Frauen mit Herzchentatoos, die Aluminiumfetzen in den Haaren haben und rauchend in die Ferne starren. Aber es gibt keine Ferne, sondern da ist eine Altbaufassade, durch die sie hindurchschauen.
Vor mir geht eine dürre Frau in einer abgetragenen Bluse die Adenauerstraße entlang, über zehn Minuten, und mir fällt plötzlich auf, dass sie ein Teppichmesser in der rechten Handfläche hat. Mit jedem Auto, das sie passiert, hebt sich das Handgelenk in einem leichten Winkel, als überlegte sie sich, die Klinge auszufahren und eine gerade Linie beim vorübergehen hineinzukratzen. Vor ihr eine Gruppe Kinder. Bevor sie sie erreicht, biege ich rechts ab.
Aber am meisten fertig macht es mich, dass ich immer und überall dieses Parfüm rieche. Dieses Parfüm, das vor vier Jahren in war. Jetzt taucht es hier überall auf. Ich schaue in den Himmel. Die Glaskörperflocken sind weg. Weißt du, diese kleinen transparenten Flocken, die man immer sieht, wenn man in den Himmel schaut. Ich weiß nicht, ob das was zu bedeuten hat.