Ich sitze im Café und lese Zeitung. Ich lese, dass ein bolivianischer Gangleader versucht hat, aus dem Gefängnis zu entkommen, indem er sich als seine eigene Tochter verkleidet hat. Nachdem er entdeckt wurde, hat er sich umgebracht. Ich frage mich, wie man nach einer solchen Nachricht überhaupt noch Geschichten erfinden kann? Wie soll man etwas Verrückteres erfinden? Ich versuche es: In Pakistan wandern Menschen durch die Lande und ziehen riesige schwebende Ballons hinter sich her. Die Ballons enthalten Kochgas, das sie in der Stadt abfüllen und so nach Hause bringen. Wenn ihnen einer eine Zigarette gegen den Ballon schnippte, explodierten sie in einem großen, leuchtenden Knall. Natürlich ist auch diese Geschichte nicht erfunden. Sie steht in der Zeitung direkt unter der Geschichte mit dem Gangleader. Also probiere ich eine andere Methode: Ich habe eine Idee und google sie, und schreibe dann einfach auf, was andernorts wirklich passiert ist: Gibt es einen Skydiver, der ohne Fallschirm aus dem Flugzeug in ein riesiges Sicherheitsnetz springt? Ja. Gibt es eine 73jährige Frau, die wegen Bauchschmerzen zu Arzt geht und die Röntgenaufnahmen zeigen einen Fötus, der seit dreißig Jahren in ihr lebt? Natürlich. Gibt es eine Firma, die sich auf die Errichungen von Militärbunkern für Superreiche spezialisiert, damit sie im Falle der Apokalypse luxuriös und gut geschützt weiterleben können? Selbstverständlich. Was soll ich noch erzählen? Soll ich dir vom Ehestreit der Familie im Bunker erzählen? Von den Bauchschmerzen der 73jährigen? Von der Angst des Skydivers vor dem Absprung? Man kann nichts mehr erzählen. Unsere Zeit ist an ihr Ende gekommen. Und dieses Ende besteht nicht in der Auslöschung, sondern in der Langeweile.
28. Oktober 2024
Kommentare von stephan